«Huai He – Alles im Fluss»

Der Huai He gehört zu den wichtigsten Flüssen Chinas. Er fliesst von der Provinz Henan durch die Provinzen Anhui und Jiangsu nach Osten und trennt das Riesenreich in eine nördliche und eine südliche Hälfte. Für Millionen von Menschen ist der Huai He eine zentrale Lebensader und führt so auch als «roter Faden» durch Seiberts Reportage «Huai He - Alles im Fluss». Der Fluss spiegelt buchstäblich die Veränderungen und Widersprüche des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch die Ängste und Hoffnungen sowie den täglichen Überlebenskampf der Bevölkerung. Obschon sich deren Kulturen und Lebenswirklichkeiten in den verschiedenen Provinzen stark unterscheiden, sind die Menschen und Siedlungen entlang des Huai He überall mit der Tatsache konfrontiert, dass dessen Wasser heute mehr einer giftigen Kloake als einem lebensspendenden Element gleicht.

Der Fluss Huai steht exemplarisch für eine Problematik, die ganz China und letztlich auch den Westen betrifft und eng mit dem rasanten, ungebremsten Wachstum der chinesischen Wirtschaft zusammenhängt. Das Verhältnis der Menschen zur Natur, die Ausbeutung bis zur Zerstörung der eigenen Ressourcen, Wachstum um jeden Preis sowie die Schwierigkeit, in einem globalen Wettbewerb die Bedürfnisse und Traditionen der lokalen Kulturen zu respektieren: Solche Themen sind weit über den Huai He hinaus zu entscheidenden Fragen der Menschheit geworden. Und obschon das Wissen darüber durchaus verbreitet ist, fehlt es überall an konkreten Massnahmen zur Verbesserung der Situation.

Um so wertvoller ist die während mehreren langen Reisen entstandene Arbeit von Andreas Seibert: ein dokumentarisches Projekt im klassischen Sinn, in dem der Fotograf unaufgeregt und ohne vorschnelle Urteile seine Beobachtungen festhält. Die Eindringlichkeit seiner Bilder rührt nicht zuletzt daher, dass er dabei einen eigenen ästhetischen Ansatz verfolgt. In Seiberts Fotografien erhalten die abstrakten – und deprimierenden – Fakten ein sinnliches Gesicht, das gerade in seiner Ambivalenz zu fesseln vermag. Seine Landschaftsbilder vermitteln trotz allem eine melancholische Schönheit, und seine Porträts zeigen Menschen, deren Würde und Stolz oftmals die innere Verzweiflung überstrahlt. Der Sinn des Fotografen für besondere Stimmungen und seine spürbare Sympathie für die Menschen, denen er auf seinen Reisen begegnet ist, sind wichtige Komponenten seines lyrischen Dokumentarstils. Auf diese Weise verdichtet sich die Reise von der Quelle bis zur Mündung zu einer Erzählung über den Zustand der Welt – im Kleinen wie im Grossen.

Peter Pfrunder, Leiter Fotostiftung Schweiz